Ich bin frei

Ich bin frei (Bergsteiger-Geschichte)

Ich beobachtete die beiden Bergsteiger, die schon seit geraumer Zeit gewissenhaft und bedächtig ihre Ausrüstung überprüften. Jeder Griff saß, und ich hatte das Gefühl, dass dies für beide zwar Routine war, ihnen jedoch Freude bereitete. Sie prüften Karabiner, knoteten Seile, hängten Ausrüstungsgegenstände an ihre Gürtel und zurrten ihre Körpergurte fest – jeder für sich. Zu guter Letzt hängten sich beide ein langes, schweres Seil um, mit dem sie beide verbunden waren.

„Entschuldigen sie!“, fragte ich einen der beiden Bergsteiger: „Fühlen sie sich frei!“
„Frei? – wie meinen sie das?“
„Ich meine: frei- sich ungehindert bewegen zu können.
Frei – das Leben zu genießen.
Frei – um schnell vorwärts zu kommen.
Ich meine: Frei!
Nicht gegenseitig verknotet, zusammengebunden, und eine schwere Last tragen zu müssen!“

Der eine Bergsteiger blickte den anderen an, und seine Antwort, so kam es mir vor, war die Antwort beider.
„Wissen Sie“, sagte er, „da wollen wir hinauf!“
„Wissen Sie“, fuhr er fort, „wir wollen einen besonderen Weg gehen, und wir möchten beide neue Horizonte sehen! Knoten, die fest sitzen, Karabiner, die halten und Gurte, die belastbar sind, haben wir uns sorgfältig gemeinsam ausgesucht. Genauso wie die Länge und das mögliche Gewicht des Seiles, mit dem wir beide in ebenem Gelände locker, aber wenn es darauf ankommt, sicher verbunden sind –
wenn Klippen zu überwinden sind, wenn Abgründe drohen, wenn wir in steiler Wand hängen.
Das Seil erst lässt uns Wege gehen, die wir uns alleine nicht zutrauen würden, die wir alleine nie genießen könnten. Erst das Wissen um unseren sichere und feste Verbindung macht uns frei.

[menu name=”Weltliche Texte”]